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Bedrängnis einer Flucht

Daniel Stächelin – University of California, Davis 

Niemand kann sich mehr an Susanne erinnern, die zwanzigjähre Frau, die sich ein paar Wochen vor der Wende den Selbstmord entschied. Außer dem Cousin ihrer Mutter, meinem Vater. Ich kann mich an sie erst recht nicht erinnern, da ich erst ein paar Jahren danach, 1992, geboren wurde. Aber mein Vater, Klaus, hatte mir öfters seine gemeinsamen Erinnerungen mit ihr erzählt, als wir durch Deutschland – um meine Heimat kennenzulernen, so wie er sagte – stundenlang mit dem Auto fuhren.  

Als ich noch ein Kind war,  hatte mein Vater mehrere Geschichten über die Vergangenheit erzählt, die er so oft wiederholte, dass das Autofahren fast zur Qual wurde. Aber bei Susannes Geschichte konnte ich nicht weghören. Erst als Erwachsener, nachdem ich an der Uni mehr über die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland erfuhr, konnte ich einigermaßen verstehen, wieso Susanne keinen Ausweg hatte.  

AnnaSusannes Mutter, war Ärztin in Ostberlin, und wollte immer ein besseres Leben für sich und ihre Familie haben. Sie hatte nämlich sehr lange studiert, und wusste, dass sie mehr hätte verdienen können, wenn sie im Westen leben würde. Ihr Vater war ein überzeugter Kommunist gewesen, und obwohl es niemand beweisen konnte, wurde vermutet, dass er Mitglied der Stasi war. Anna wurde immer verdächtig angeschaut, weil sie nicht vom Kommunismus überzeugt zu sein schien. Die Folge war, dass es zu laufenden Spannungen zwischen Anna und ihrem Vater kam, bis sie dann die Entscheidung traf, in den Westen zu flüchten.  

Mein Vater, der damals als Musterzeichner in einer Textilfabrik arbeitete und in Baden-Württemberg wohnte, bekam von Anna einen Anruf. Er solle sie sobald wie möglich besuchen.  

Mein Vater, ein kräftig gebauter Mann, damals noch dunkelbraune Koteletten und eine Fliegerbrille tragend, eine Zigarette im Mund hängend, so wie ich es in den Fotos sah, wurde immer laut beim Stammtisch des kleinen Dorfes, wo er wohnte. Er schlug seine Faust auf dem Tisch, wenn es hieß, die scheiß Ossis sollen wieder zurück wo sie herkamen, dass es dort nicht so schlimm sei, wie sie es hinstellen. Das Gebrüll und die Faustschläge auf dem Tisch hatte ich selbst als Kind erlebt, während ich meine Apfelschorle brav getrunken und zugehört hatte, wenn es zwischen den älteren Männern um brisante Themen ging, wie Politik und Wirtschaft – Themen, die für mich keine Bedeutung hatten. 

Als er Anna in Ostberlin besuchte, sagte sie ihm, dass sie in den Westen flüchten möchte, dass sie die Verhältnisse mit ihrem Vater nicht mehr ertragen könne, und dass sie bereits einen gescheiterten Selbstmord hinter sich habe. Sie sagte, sie wolle ein neues Leben anfangen, für sich und ihre Tochter Susanne, die damals fünf Jahre alt war. Es kam aber auch raus, dass sie eine Affäre mit ihrem Doktorvater hatte, der vor einem Monat erfolgreich in den Westen geflüchtet war. Sie wollte ihn wieder sehen. Dass sie einen Ehemann hatte, war ihr egal. Für sie war er sowieso nur ein "Schlappschwanz". Sie erzählte meinem Vater, dass ihr Doktorvater jetzt bei der Uni Tübingen war, und dass er ihn dort ausfindig machen solle. 

So begann das Doppelleben meines Vaters als Courier bei einer Organisation für Fluchthilfe. Annas Doktorvater, Professor Bachmann kam eines Tages in sein Büro rein, und fand meinen Vater in einem Ledersessel auf ihn wartend. Bachmann wusste schon wieso er nach Tübingen gekommen ist. Er reichte meinem Vater einen Zettel, auf dem die Telefonnummer eines Kay Mierendorffs stand. Mierendorff war der Leiter der Fluchthilfe-Organisation, und wurde ständig von der Stasi gejagt, bis die Stasi 1981 einen Briefbombenanschlag auf ihn und seine Frau verübte.  

Nach einer zweimonatigen Schulungsphase über die Gefahren der Fluchthilfe, besuchte er wieder Anna, aber diesmal mit seiner Freundin, Marion. Als sie vor dem Wohnblock in seinem Auto saßen, sagte er zu Marion, sie solle hochgehen und Susanne zum Spielplatz mitnehmen, der um die Ecke lag, denn wenn Susanne ihren Onkel gesehen hätte, dann hätte sie vor Wiedersehensfreude geschrien und ihrem kommunistischen Opa gesagt, „Onkel Klaus war hier! Onkel Klaus war hier!“, was ihren Opa höchstwahrscheinlich misstrauisch gemacht hätte. 

Dann wartete er alleine im Auto, bis Anna eine halbe Stunde später rauskam, in das Auto stieg, und sie durch Ostberlin fuhren. Dort sagte er ihr, dass sie mit ihrer Familie in Leipzig vor dem Bahnhof warten und einen Rosenstrauß in der Hand halten soll, damit der zuständige Fluchthelfer sie identifizieren könne.  

Alles lief nach Plan. Anna wurde als Ärztin im Westen sehr erfolgreich. Sie kaufte sich einen Mercedes, dann einen BMW, trank teuren Wein aus Italien, Chile und Frankreich, und kaufte sich Klamotten, die im Osten unerschwinglich gewesen wären. Sie ließ sich vom Konsumrausch anstecken, und interessierte sich immer weniger für ihre Familie. Für ihren Mann interessierte sie sich erst recht nicht. Dass aber Susanne darunter litt, konnte mein Vater nicht in Kauf nehmen.  

„Onkel Klaus,“ sagte sie seufzend als sie eines Tages mit meinem Vater den Rhein entlang spazierte, fünfzehn Jahre nachdem sie mit ihren Eltern die Grenze überquerte. „Ich will zurück. Ich halte es bei meinen Eltern nichtmehr aus. Vati hat nichts zu sagen und Mutti interessiert sich einen Dreck für mich.“ Mein Vater wusste sich keinen Rat, und dachte nur, vielleicht wird sie es durchstehen. Sie war nämlich zwanzig Jahre alt, und würde bald auf die Uni gehen. Aber dass er nichts unternommen hatte, bereut mein Vater noch heute. 

Zwei Wochen später wurde sie in einem Hotelzimmer in Westberlin tot gefunden. Eine Flasche Rotwein (Alkohol hatte sie nie getrunken) lag leer auf dem Boden, und in ihrer Hand hielt sie eine halbleere Dose Schlaftabletten, die sie von ihrer Mutter gestohlen hatte. Sie hatte keinen anderen Ausweg. Sie konnte entweder zurück nach Hause gehen und sich für ihre Eltern schämen und sich von ihnen vernachlässigt fühlen, oder sie konnte zurück nach Ostberlin, wo sie niemanden kannte, und wo sie verhaftet geworden wäre, um ihre Eltern zurück nach Ostberlin zu locken. Zwei Wochen später ist die Mauer gefallen. Vielleicht hätte das ihr Leben gerettet, aber vielleicht hätte sie ihre Situation umso weniger verkraften können. 

Ich hatte Susanne nicht gekannt. Was ich über sie weiß, ist eine Erinnerung, die nicht meine eigene ist. Aber ich bin jetzt im gleichen Alter wie sie, als sie sich das Leben nahm, und ich wundere mich oft: hätte ich auch das gleiche getan, wäre ich in der gleichen Situation gewesen? 

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