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Anmerkungen zur Konzeptualisierung des Fremden in Die Vermessung der Welt

Roman Seebeck - Amherst College

Kurz vor seiner berühmten Amerikareise begegnet Alexander von Humboldt  der "Legende" Georg Forster, der zusammen mit James Cook selbst einst die Welt bereist hatte. Diesem historisch belegten, jedoch weniger bedeutsamen Zusammentreffen weist Daniel Kehlmann in seinem Roman Die Vermessung der Welt eine Schlüsselfunktion in der Entwicklung seiner Figur zu. Forster erscheint Humboldt  wie ein  Orakel – „Melancholie umgab ihn wie ein feiner Nebel“ –, das ihm prophezeit, das Reisen in fremde Länder werde ihn stark beinflussen, und selbst wenn man wieder nach Europa zurückkäme, „erhole man sich nicht von der Nähe des Fremden“, und später bereue man seine Reise, „weil man nie zurückkommen könne“ (S. 28f.). Diese kryptische Bemerkung  führt den Leser ganz gezielt zu dem in der Ethnologie geprägten Begriff des Fremden  heran. Doch was hat es mit diesem Begriff auf sich, welche Rolle spielt er in dem Roman, und was meint Forster, wenn er von der „Nähe des Fremden" spricht?

Der Fremdheitsbegriff ist für Humboldt kein genuin geografischer. Zwar besteht auch dessen Reiseerfahrung in einer Erkundung unbekannter Landschaften, geht jedoch darüber hinaus. Es ist ein Aufeinandertreffen zwischen einem Missionar der europäisch zivilisierten Welt und dem Naturbild der südamerikanischen Urwälder. Humboldts Erfahrungen sowohl mit der ökologischen als auch mit der eigenen Natur sind für die Verortung des Fremdheitsbegriffs konstitutiv. Geht es ihm zunächst um die Vermessung der „neuen Welt“, so gerät er schnell an die Grenzen seines rationalen Wissenschaftsbildes, die Auseinandersetzung mit der Natur gerät zu einem Kampf gegen den stetig fortschreitenden Prozess der Entsubjektivierung. Naturfeindlichkeit und einer seinem Vernunftglauben entspringender Abwehrhaltung gegenüber der Kultur der indianischen Völker prägen seinen Habitus. „Die Natur spreche überall in der selben Sprache“ betont er und beschwört das Bild einer weiblichen Natur, eine klassische europäische Naturvorstellung, die die Natur sexualisiert und den Frauen gleich als eine Erscheinung mit geringem zivilisatorischen Entwicklungspotenzial verharmlost (S. 77). Im Zuge der Reise wird dieses Weltbild jedoch verstärkt erschüttert.

Im Dschungel tritt Humboldt beispielsweise die Natur in Personifikation eines Jaguars gegenüber, physisch überlegen und mit den Waffen des Verstandes nicht zu besiegen. Instinktiv nimmt er den Jaguar aus seiner naturfeindlichen Perspektive wahr: „Das Tier hob den Kopf und sah ihn an“ (S. 107f.). Er sieht in ihm lediglich ein Tier, ein Triebwesen, das Gegenteil des Menschen, erkennt jedoch auch seine Unterlegenheit, was seine Wahrnehmung verändert: „Der Jaguar sah ihn aufmerksam, ohne den Kopf zu heben, an“ (S. 107f.). Anstatt irgendeines Tieres nimmt er jetzt einen Jaguar wahr und personifiziert ihn als überlegenes Wesen. Seine rationale Einstellung gegenüber der Natur wandelt sich. Aus dem Betrachter wird das Betrachtete, aus dem handelnden Subjekt wird das passive Objekt und umgekehrt. Unterwürfig wendet Humboldt seinen Blick vom Jaguar ab und zieht sich vor dem Fremden in personam zurück (S. 108). Während die anderen Männer im Lager das Tier töten wollen, insistiert Humboldt jedoch und betont: „Der Jaguar habe ihn gehen lassen“ (S. 108). Er hat ein rationales und gleichzeitig humanes Verhalten gezeigt, zu dem im Humboldtschen Kosmos sonst nur ein Vernunftwesen fähig ist, handelt er schließlich entgegen seinem Jagdinstinkt und verdeutlicht  so seine eigene Fehlbarkeit. Wann immer er sich den Waffen des Verstandes daraufhin beraubt fühlt, sieht er die Augen des Jaguars „aufmerksam, klug und ohne Gnade“ vor seinem inneren Auge (S. 109).

Die in dieser Episode zutagetretende Form des Fremden lässt sich zwar als eine objektivierte Fremde bezeichnen, geht jedoch auch darüber hinaus. Schließlich zeigt sich Humboldts Seele sichtlich erschüttert, ein Verweis auf die inneren Vorgänge der Figur, die ebenfalls mit Fremdheit in Verbindung gebracht werden können. Hierbei spielt zudem der Naturbegriff eine tragende Rolle, vor allem die Natur des Menschen, in Humboldts Fall dessen Verhältnis zur eigenen Sexualität, die er seit seiner Kindheit gelernt hat zu verleugnen.

Eines Nachts verweilt Humboldt in einem Zelt in einem Indianerdorf, als er aus seinem Schlaf erwacht: „Jemand war hereingekommen und hatte sich neben ihn gelegt. [...] er (Humboldt) entzündete mit unsicherer Hand den Kerzendocht und sah, daß es ein kleiner Junge war. [...] Das Kind musterte ihn mit schmalen Tieraugen.“ (S. 125). Wieder nimmt Humboldt das Fremde zunächst animalisch wahr, fühlt sich entsubjektiviert und wird vom Betrachter zum Betrachteten. Als er den Blick jedoch erwidert, sieht er sich selbst, seine eigene sexuelle Natur: „Der Junge wandte den Blick nicht von ihm ab. Er war völlig nackt [...] Humboldts Hand zitterte so stark [...] im Dunkeln hörte er ihrer beider Atem [...] als er dessen (des Jungen) feuchte Haut fühlte, zuckte er zurück [...]“ (S. 126). Humboldt fühlt sich erotisch zu dem Jungen hingezogen und nimmt ihn mit allen Sinnen wahr. Als eine Versöhnung mit seiner Sexualität möglich scheint, ein Verschmelzen mit seiner eigenen Fremde angedeutet wird, er den Jungen berührt, die emotio über die ratio zu dominieren scheint, zeigt Humboldt, der seine rationalen Ideale im Foucaultschen Sinne inkorporiert und verselbstständigt hat, eine heftige körperliche Reaktion: Er jagt den Jungen mit Tritten aus dem Zelt.

Fremdheit  erhält in diesem Ausschnitt eine psychologische Ausprägung. Humboldt selbst trägt in sich eine Anstaunung subjektiver Eigenschaften, die ihm mit dem Persönlichkeitsideal, das er verkörpern will, unvereinbar erscheinen und von ihm verdrängt werden. Auch diese Eigenschaften lassen sich als eine Form des Fremden benennen, die auf der Reise hervorgebracht werden und als subjektivierte Fremde bezeichnet werden können.

Die Rückführung auf die eigene Natur ist es auch, worauf Georg Forsters eingangs zitierte Worte anspielen. Zurück in Europa sieht sich Humboldt trotz massiver Verdrängungsversuche stets mit seiner subjektivierten Fremde konfrontiert. Der territoriale Begriff des Fremden als Bezeichnung für ein dem Betrachter unbekanntes Gebiet verliert somit seine semantische Bedeutung. So lässt sich auch für Humboldt feststellen,  „[...] als Davongekommener erhole man sich nicht von der Nähe des Fremden“, solange man nicht bereit ist, der Selbstverleugnung und Subjektentgrenzung ins Auge zu blicken (S. 28). Kehlmanns alternder Humboldt versteht dieses Konzept nicht und erscheint dem Leser dadurch in einem gewissen Maße unsympatisch. Die geringe Identifikationsdichte zwischen Humboldt und dem Rezipienten hat freilich Methode; die Konzeptualisierung als Historischer Roman bindet den Leser selbst in den Verfremdungsprozess ein. Während die postmoderne Rezeption das Fremde als kulturelles Zeichensystem reflektieren und deuten kann, vermag Kehlmanns Humboldt dies freilich nicht. So entfremdet sich der Leser von der Figur, da es ihm schwerfällt Humboldt als Subjekt wahrzunehmen. Das Porträt das Kehlmann so von seinem Humboldt zeichnet, ist demnach präzis und schonungslos: das Bild eines Reisenden, der stets selbst das Ziel seiner Reise bleibt, eine Legende, eingehüllt in den Nebel der Melancholie.

Literaturangabe
Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt, Reinbek 2005.

 

 

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